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Impuls zum 6. September 2020

Zum 23. Sonntag im Jahreskreis

Von Sonja Billmann, Aachen

Zum Tagesevangelium Matthäus 18, 15-20
Jesus spricht zu seinen Jüngern:

Sündigt dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.
Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde.
Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.
Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein. Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.

Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

Nachdenkliches
Dieses Evangelium möchte Mut machen, aber es fordert uns zugleich auch. Es fordert jeden einzelnen Christen heraus, der zur Gemeinschaft gehört. Es redet nicht von herausragenden Amtsträgern; vielmehr erwartet es von jedem von uns den Schritt auf den Nächsten zu; wenn es nötig ist, auch verbunden mit einem ernsthaften und klaren Wort: „Du hast gesündigt, Bruder“. Eine Regel, die in die Verantwortung ruft, die seelsorgerliche Verantwortung für jedes einzelne Glied der Gemeinde durch die anderen.

Als ich diesen Text las, musste ich an konkrete Begegnungen in diesem Sommer in einem Altenwohnheim denken. Das Wohnheim in einer ostbelgischen Kleinstadt hatte zu Beginn der Coronazeit 96 Bewohner. Die meisten Senioren waren in stabilen altersgerechten Gesundheitszuständen- kaum jemand bettlägerig. Die Wohnzeit dort beträgt zumeist mehrere Jahre. Die Beziehungen zum Personal des Wohnheims- sei es Pflegepersonal, Küchenpersonal, Logistik oder Empfang- sind familiär und freundlich. Die durchschnittliche Sterberate beträgt 3-4 Menschen pro Jahr. In der Coronazeit sind 35 Bewohner*innen, drei Mitarbeiter*innen und eine unbekannte Zahl Angehöriger an Corona verstorben. Die Heimleitung sowie Stellvertretung waren ebenfalls schwer an Corona erkrankt. Sie werden ihren Dienst Anfang September wieder aufnehmen. Zur Aufarbeitung der Coronapandemie begleite ich die Mitarbeiter dieses Altenwohnheims. Sie treffen sich in Gruppen in einem eigens zu diesem aufgebauten Zeltpavillion auf dem Parkplatz des Wohnheims. 

Sie sind alle gekommen, voller Erwartung und Freude auf das Zusammenkommen und vor allem ohne irgendein Anzeichen dafür, dass sie sich unwohl fühlen in diesem großen Kreis von Kolleg*innen – zusammengesetzt aus bunt gemischten Gruppen quer über alle Bereiche des Wohnheims.

Ein Kollege von mir bemerkte zu dieser Form der Begegnung etwas spitz und herablassend: „Lohnt sich das denn schon die Coronapandemie aufzuarbeiten? Wir sind doch noch mittendrin.“

Ab wann lohnt es sich denn? habe ich mich gefragt, hatte aber nicht den Mut, dem Kollegen diese Frage vorzulegen und keinerlei Neigung, ihm von der Emotionalität und Kraft dieser Menschen über die erfahrene Gemeinschaft zu erzählen. Stattdessen zog ich mich auf das vermeintlich sichere Terrain der Bibel zurück und erinnerte etwas zaghaft an jenen Satz, der heute, der letzte Teil des einprägsamen Evangeliums ist:

Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Das reicht doch schon, so sagte ich fast entschuldigend. Dieser Moment meiner Verzagtheit ermutigt mich nun Sie mitzunehmen in einzelne Zitate aus den Momente der Krise in diesem Wohnheim.
Mögen Sie Ihnen und mir als Fürbitten dienen: 

  • Mitarbeiterin am Empfang: „Als ich die vermummten aufgeregten Krankenwagenfahrer sah, die uns eine Bewohnerin aus dem Krankenhaus zurückbrachten, wusste ich das wir einen ersten positiven Fall haben und denke heute, dass das Wort positiv für mich nicht mehr positiv ist“
  • Mitarbeiterin aus der Wäscherei: „Ich sehe die Wäscheberge- der Wäscheberg des Personal wächst ins unermessliche. Der Wäscheberg der Bewohner wird immer kleiner. Jeden Tag kommen neue Totenzettel“
  • Mitarbeiter aus der Küche: „Wir haben so sehr versucht alle gut zu versorgen- Bewohner und Personal. Wir haben täglich allerlei Leckereien fürs Personal vorbereitet und viele unterschiedliche Breispeisen für Bewohner. Vor allem demente Bewohner, die wegen Covid an Geschmacksverlust litten, hatten große Schwierigkeiten zu essen und das Durchfüttern erforderte viel Geduld und Zeit.“
  • Mitarbeiterin aus der Logistik: „Wir haben in zwei Tagen ein altes Gebäudeteil reaktiviert um eine Covidstation zu bauen. Dabei mussten Wände hochgezogen werden, Umzüge geplant werden, alles desinfiziert werden, was umgezogen wurde. Ein Wettlauf gegen den Tod“
  • Mitarbeiterin aus der Pflege: „Ich war von Freitag bis Freitag in der schlimmen Woche im Dienst. Als ich meinen Dienst begann hatten wir 26 Bewohner auf der Station. Am Freitag danach waren es noch acht.“
  • Mitarbeiter aus der Pflege: „Es war schlimm für mich, dass weder Angehörige noch wir die Menschen würdevoll beim Sterben begleiten durften. An einem Morgen habe ich einen sterbenden Bewohner gewaschen, der sich noch nicht von seiner Tochter verabschiedet hatte. Er hat den 2. Weltkrieg noch erlebt. An dem Morgen war er erstaunlich stabil und so rief ich spontan mit ihm seine Tochter an. Er sammelte alle Kraft und sagte seiner Tochter am Telefon: „So werde ich nun im Krieg sterben – das habe ich immer gewusst. Es war eine schöne Zeit in der Zwischenzeit mit Euch“.  Abends habe ich meinen in diesem März neugeborenen Sohn im Arm gehalten und mich gefragt, wie ich einmal sterben werde.“

Ich könnte noch viele eindrückliche Momente und Zitate dieser Begleitung aufführen. Es sind Eindrücke von konkretem Christsein und konkretem Menschsein in der Coronakrise. Fast alle Mitarbeiter*innen berichten mir – manche schamvoll, manche stolz – dass sie gegen Vorschriften und Vorgaben verstoßen/gesündigt haben. Der Verantwortung und der Liebe zu den Bewohner*innen wegen. Das ist verbunden mit hohen Risiken. Das Risiko andere, beispielsweise die eigene Familie anzustecken, das Risiko sich selbst anzustecken, das Risiko arbeitsrechtliche Konsequenzen zu erleben. 

Was alle verbindet ist eine Wand von Bildern Überlebender auf dem Flur von der Covidstation zur Normalstation. Diese Wand ist äußeres Zeichen der gelebten Solidarität untereinander, Ausdruck eines Räderwerks, das ineinandergegriffen hat und Leben und Sterben in Würde ermöglicht hat.

Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.

Lieder 
Sonne der Gerechtigkeit, Gotteslob 481
oder/ und  Kanon: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen
 

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