Impuls zum 26. Juli 2020
Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), pax christi Diözesanverband Münster
„So gebe doch ein hörendes Herz, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“
(1 Könige 3,9) oder: Christlicher Glaube ist auch Gewaltanschauung
Dieser Sonntagsimpuls ist geschrieben am 22. Juni 2020; da war Redaktionsschluss. Ich habe also geschrieben vor fast genau fünf Wochen? Und konnte nicht abschätzen, wie unser Alltag und die Welt mit Covid-19 und allem anderen aussehen? Was wird sich Bahn brechen und uns beschäftigen? Am 22.6. war in allen Nachrichten das Tagesthema der Gewaltausbruch in der Innenstadt von Stuttgart – „ein Ausfluss von Corona“, das war die erste Analyse. Und der Virus-Hotspot in weiteren Fleischfabriken in NRW. Wir leben in unübersichtlichen, sehr schwierigen und bewegenden Zeiten – und leben derzeit nur „auf kurze Sicht“ - ins völlig Offene.
Im Lesungstext (1 Kön 3,5.7-12) hören wir heute davon, dass Gott den Salomo im Traum „auffordert“, eine Bitte zu äußern, einen Wunsch. Er will ihn testen, herausfinden, wes Geistes Kind Salomo ist. Gemäß dem Motto: „Sage mir, worum du bittest, und ich sage dir, wer du bist.“ Es gibt ja kindliche oder um das eigene Ich kreisende Bitten („Lieber Gott, mache bitte, dass…“), und es gibt Bitten, die sehr klar zum Ausdruck bringen, was de facto ist und was wirkt im Leben, und in denen Mann oder Frau in allem Eingebundensein und in allem Fehlen sich auch selbst erkennen. Auch Salomo weiß, was ihm fehlt, ihm, dem jungen König, dem Sohn und Nachfolger Davids, der seine Verantwortung spürt. Deshalb seine Antwort: „So gebe deinem Untergebenen doch ein hörendes Herz, um in deinem Volk Recht zu sprechen und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“
„Ein hörendes Herz, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden“: Für mich bedeutet diese Bitte heute auch eine Bitte um Kraft und Offenheit, mich dem zu stellen, was auf mich zukommt. In den vergangenen Wochen wurde ich hier auf die Probe gestellt und habe von vielen Kreuz-Erfahrungen und Gewalt-Erfahrungen Kenntnis bekommen. Oft habe ich meine eigene Sprachlosigkeit wahrnehmen müssen und bin sehr erschrocken über das, was an meine Ohren und vor meine Augen gekommen ist.
Wenn da jemand vor der drohenden Insolvenz steht und nicht weiß, wie er seine Schulden zurückzahlen soll, auch die Mieten, ohne Einnahmen verzeichnen zu können – auch wenn es finanzielle Hilfen seitens des Staates gibt… Oder wenn Corona in ein Familiensystem einschlägt und der Tod sich erfahrbar macht und Menschen sich nicht voneinander verabschieden konnten... Wenn Krankenpfleger*innen in ihrem Dienst ohne Wissen hautnah mit Corona in Berührung kommen, in Quarantäne müssen, gleichzeitig ihre betagten Eltern zu pflegen haben… Wenn in Corona-Zeiten in der Fleischfabrik Menschen ohne Sicherheitsabstand arbeiten müssen, ihre Virus-Infektion aus Angst vor Entlassung verschweigen… Wenn durch Corona existentielle Konflikte auf neue Weise hochkommen und sich nach vorne schieben… Das sind Kreuzerfahrungen – vor einiger Zeit so nicht vorstellbar.
Und dann die Corona-Gewalt in anderen Teilen unserer Erde, die an mein Ohr drang. Ich will davon berichten, damit bei allem auch der Blick über unseren Tellerrand nicht vergessen wird. Ich weiß, es tut weh, ist kaum auszuhalten; aber es ist trotzdem notwendig. Ich weiß, es ist schwer, wenn man selbst gerade ein Stück sicheren Boden unter den Füßen verliert.
Ich bekam von einem Freund eine E-Mail folgenden Inhalts: „Ich war vorgestern in einem Minen-Slum in Johannesburg und gestern in Soweto. Auch in Südafrika ist das Virus angekommen. Die Mine ist geschlossen. … Die Angst der Menschen ist groß, die spärlichen Tageseinkommen aus dem informellen Sektor sind ja nun urplötzlich weggebrochen und das für unbestimmte Zeit. Der Shutdown wird vermutlich sehr vielen armen Menschen das Leben kosten ...!"
Dann höre ich von Szenen in Favelas in Manaus und Sao Paulo in Brasilien, die wir uns nicht vorstellen können. Wie soll man einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten, wenn man in äußerst engen Gassen leben muss und mit sechs bis acht Personen in kleinen Blech-Holz-Hütten? Wie soll man sich regelmäßig die Hände waschen, wenn es kein fließend Wasser gibt?
Was ist mit Mund- und Nasenschutz und Beatmungsgeräten? Wer kann diese im globalen Süden bezahlen? Bei uns kostet ein wiederverwertbarer Baumwoll-Mund-Nasenschutz EUR 5,99. Was, wenn nur 1 EUR/Tag/Person oder noch weniger zur Verfügung stehen? Oder eine Zahl, die mir vor einigen Wochen begegnete: Ein Land wie Malawi hat 30 Intensivbetten für 18 Millionen Einwohner.
Aus Guatemala höre ich aktuell, dass dieses kleine Land der 3-größte Hotspot in Südamerika ist – nach Brasilien und Mexiko. Viele Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen sind gestorben an Corona; 550 neue Infektionen pro Tag – dieselbe Fallzahl wie bei uns – nur wir sind 80 Millionen Einwohner*innen. Der Shutdown hat dazu geführt, dass die Menschen im Quiché hungern, wirklich hungern: die Wirtschaft ist zusammengebrochen: kaum Lebensmittellieferungen, auch weil die Menschen kein Geld haben, um zu bezahlen; sehr viele leben von Subsistenzwirtschaft – von dem, was sie selber säen und ernten – und das garantiert sehr oft nicht den Lebensunterhalt.
Bei uns in Deutschland und für uns in Europa werden Rettungspakete geschnürt – alles richtig und wichtig. Aber: Wo bleiben andere Rettungspakete? Wenn ich zusammenrechne: weit über 1,5 Billionen Euro stellt unsere Regierung für Unterstützungsmaßnahmen allein bei uns zur Verfügung. Für Afrika, das aus 55 Ländern besteht, hat das Auswärtige Amt für die Weltgesundheitsorganisation gerade einmal fünf Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das war im April.
Was soll ich sagen: Das sind doch Zeichen verweigerter Solidarität. Es herrscht Gewalt – strukturelle zumal! Menschen kommen unter die Räder. Ich lerne wieder einmal, bewusst zu sehen in diesen Sommertagen: für diese Realität steht das Kreuz - auch. Es ist ein Stück Realität. Das Kreuz von Golgatha steht für diese Realität: für alle Gewalt, alle Not dieser Welt. Es bildet die nackte Wahrheit ab. Es macht für mich deutlich, wie verstrickt wir sind in eine gewalttätige Kultur und Weltgesellschaft, die Menschen opfert. Und Jesus von Nazareth mitten darunter. Sinnfindung in weiter Ferne. Mehr Fragen als Antworten. Aber Mitgefühl und Mitleiden. Und die Einsicht: Der da hängt am Kreuz, ist ein Opfer menschlicher Gewalt. Christlicher Glaube ist für mich deshalb immer auch: Gewaltanschauung. Haben Christ*innen genau deshalb das Kreuz hängen oder bezeichnen sich damit oder tragen es als ihr Zeichen?! Nämlich zur Erinnerung, nicht zu vergessen, sondern anzuschauen: die Gewalt dieser Welt!?
Wie trotzdem aufrecht bleiben und widerständig und nicht gewaltkonform? Dietrich Bonhoeffer ist mir eine Ermutigung. Der evangelische und ökumenisch gesinnte Theologe wurde auch ein Opfer mitmenschlicher Gewalt; vor 75 Jahren, im April 1945, wurde er im KZ-Flossenbürg von den Nazis hingerichtet. Er war von guten Mächten gar nicht wunderbar geborgen; er hat trotzdem davon geschrieben – auch das war eine Form von Widerstand. Glauben war für ihn etwas Diesseitiges, mit einem Jenseits-Gott konnte er nichts anfangen. Glauben hieß für ihn, „dem Rad in die Speichen zu fallen“, nicht allein die eigenen Leiden wahrzunehmen, sondern die der anderen; für ihn waren diese „die Leiden Gottes in der Welt“. Das hat ihn aufrecht bleiben lassen – bis zuletzt.
Es ist schon paradox: Erst Gewaltanschauung wendet Not, erst das Mitleiden macht das Leben menschlich. Was bedeutet auf solchem Hintergrund die Bitte um ein „hörendes Herz“?
Für mich: die Stärkung meines Willens, wirklich hinzuhören auf die oft leisen Stimmen der Leidenden und diese verstärken zu helfen; Partei zu ergreifen, wo Leben mit Füßen getreten wird; wirklich zu sehen, was ist – Gewalt anschauen; mich nicht von ihr entmutigen zu lassen; und das verändern zu helfen, was geht. Und nie zu vergessen, Gewalt an Unschuldigen zu benennen und die vielen Kreuze zu erinnern – in Corona-Zeiten und ganz besonders nach Covid-19.
Bleiben wir widerständig, gesund und behütet - und bitten auch wir um ein „hörendes Herz“.
Erinnerung – Eine österliche Meditation für den Alltag
verschlafe deine auferstehung nicht
aufwachen und aufstehen
jeden tag:
ein beweis dass wir leben
wach werden und sich erheben
jeden tag:
der kampf mit der horizontalen
der aufstand gegen die resignation
sich erheben und wach werden:
die morgenluft spüren
die finger spreizen
die füße erden
eine handvoll wasser ins gesicht
die taufe für den neuen tag
verschlafe deine auferstehung nicht
am jüngsten tag könnte es zu spät sein
lass dich nicht vertrösten: die hoffnung kann auch
missbraucht werden zur flucht aus der gegenwart
das neue leben aber beginnt mit jedem morgen
und der neue mensch will geboren werden
an jedem neuen tag
wecke also die lebensgeister, geh aus dir heraus
schaffe verbindungen und bleibe im training
sich erheben und wach werden:
die augen reiben
die ohren waschen
die sinne schärfen
unterscheiden lernen:
die öffentlichen lügen sind schon im netz
die decke und die angst abwerfen
den aufrechten gang üben
widerstehen
lebensregeln
gegen die zwänge der anpassung
aufwachen und aufstehen
jeden tag:
ein beweis dass wir leben
Aus: Jutta Lehnert / Guido Groß / Jörg Gattwinkel / Melanie Gehenzig / Andreas Barzen, Gott kannste nicht vergessen!, Lahn-Verlag Haus Altenberg 2011, S. 150f
Weltstatistik zur Besinnung
Falls du heute Morgen nicht krank, sondern gesund aufgewacht bist, bist du glücklicher als eine Million Menschen, welche die nächste Woche nicht erleben werden.
Falls du nie einen Tag Krieg erfahren hast, nie die Einsamkeit einer Gefangenschaft, nie die Nöte auf einer Flucht, nie die Agonie von Gefolterten oder Hungersnot, dann bist du glücklicher als 700 Millionen Menschen dieser Welt.
Falls sich in deinem Kühlschrank Essen befindet, du angezogen bist, ein Dach über dem Kopf hast und ein Bett zum Schlafen, bist du reicher als 75% aller Menschen weltweit.
Falls du ein Bankkonto hast, Kreditkarten und Geld im Portemonnaie und auf Kleingeld nicht arg achten musst, gehörst du zu den 8% der wohlhabenden Menschen auf dieser Welt.
Falls du diese Statistik liest, bist du besonders privilegiert; denn du gehörst nicht zu den Milliarden Menschen, die nicht lesen können.
Vater unser
Vater unser im Himmel
schau mütterlich auf deine Erde
geheiligt werde dein Name
mit dem so viel Unrecht verübt wird
Dein Reich komme
der Friede und die Gerechtigkeit, nach denen wir uns sehnen
Dein Wille geschehe
denn wer weiß schon, was besser ist
wie im Himmel so auf Erden
unserer armen, blutenden Erde voll Gewalt
Unser tägliches Brot gib uns heute
wir wollen es teilen, dann reicht es für alle
Und vergib uns unsere Schuld
damit wir frei werden zu lieben
und auch wir vergeben unseren Schuldigern
weil du uns die Kraft dazu gibst
Und führe uns in der Versuchung
damit wir auf deinem Weg bleiben
und erlöse uns von dem Bösen
so werden wir glücklich ans Ziel gelangen
Denn dein ist das Reich und die Kraft
voll Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen
Aus: Te Deum 7/2019, 209f
Segensgebet
Lasst uns um Segen bitten:
Lebendiger Gott:
Segne uns – und das, was wir tun.
Behüte uns – und die, mit denen wir leben.
Lass dein Angesicht leuchten über uns – und über die,
für die wir Verantwortung tragen
Sei uns gnädig – und all denen, die sich feind sind.
Erhebe dein Angesicht über uns – und unsere Geschwister in aller Welt.
Gib uns – und der ganzen Welt – deinen Frieden.
Und so lasst uns in Zuversicht und mit Frieden und Vertrauen im Herzen unseren Weg weitergehen trotz so vielem – im Namen des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes. AMEN
Liedvorschläge
- GL 383, 1-3: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe
- wes Geistes Kind sind wir, sind unsere Gedanken, unsere Pläne (https://www.evangeliums.net/lieder/lied_wes_geistes_kind_sind_wir.html)
- GL 433,2: Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr, suche den Frieden
- GL 342, 4-6: Komm, Heilger Geist, der Leben schafft, erfülle mich mit deiner Kraft
- GL 468,1-3: Gott gab uns Atem, damit wir leben