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Impuls zum 7. November 2021

Zum 32. Sonntag im Jahrekreis

Von Odilo Metzler, pax christi Rottenburg-Stuttgart

Gedanken zum Evangelium: Schenke dich selbst
Evangelium: Markus 12, 38-44

Die harsche Kritik Jesu an den Schriftgelehrten ist zunächst einmal eine Anfrage an uns Theologinnen und Theologen: Was ist Schein und Sein? Gibt es auch bei mir falsches Geltungsbedürfnis und Selbstgefälligkeit? Stimmen Glauben und Leben überein?

Bei den Theologen seiner Zeit deckt Jesus auf, wo es ihnen um sie selbst geht und nicht um die Menschen und auch nicht wirklich um Gott. Jesus legt damit den Finger in eine Wunde, die uns heute besonders schmerzt: Werden wir erleben, dass sich Kirche so verändert, dass Schutzlose nicht missbraucht werden können, sondern dass in ihr Gottes Wirken erfahrbar ist, dass Menschen frei werden, dass Arme aufatmen und dass die Welt durch Gottes Liebe verwandelt wird? 

Jesus stellt uns eine Witwe vor Augen. Sie gehört zu den verletzlichsten Menschen. Sie ist rechtlos, schutzlos, zumindest in der damaligen Zeit. Sie hat keine Versorgung und ist auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen. Sie erscheint nicht als Opfer, sondern als Gebende und als Vorbild. Sie gibt zwar lächerlich wenig im Vergleich zu den reichen Tempelbesucher*innen, aber sie gibt nicht vom Überfluss, sondern, was sie hat, was sie selbst zum Leben braucht. Ihr Potential ist ihr Vertrauen. Sie vertraut darauf, dass Gott jeden Tag für sie sorgt. 

Der Tempel ist für Jesus nicht ein Ort, an dem der Wille Gottes geschieht. Er ist das imposante Zentrum des religiösen und des sozialen Lebens, der Wallfahrten und Opferriten, auch der Macht, des politischen Lebens. Er ist auch der zentrale Finanzplatz des Landes, wo Menschen die Tempelsteuer und Ernteabgaben entrichten, Händler und Geldwechsler Lizenzen zahlen für ihre Geschäfte. Aus dem Tempelschatz ist eine Bank geworden, in der Menschen ihr Geld deponieren. Der Tempel spiegelt die Unrechtsverhältnisse in der Gesellschaft wieder. Drastischer als Jesus kann man es kaum sagen, wenn Menschen um ihr Obdach gebracht werden: „Sie fressen die Häuser der Witwen auf.“ Wem fällt da nicht ein, wie heute Grund und Boden und Häuser zu Spekulationsobjekten geworden sind, wie unmöglich es für die Mehrzahl der Menschen geworden ist, sich ein eigenes Obdach zu erwerben?

Jesus warnt seine Jünger: Passt auf, dass ihr euch nicht ehrsüchtig, geldgierig und scheinheilig verhaltet und euch loben lasst für eine Großzügigkeit, die nicht weh tut. Schaut nicht auf die! Werdet nicht wie sie! Lebt nicht auf Kosten der Ärmsten. 

Das Beispiel von der Witwe im Tempel ist oft so verstanden worden, dass wir alles geben sollen ohne Rücksicht auf die eigene Existenz. Das macht nicht nur ein schlechtes Gewissen. Es macht auch keinen Sinn, alles dem Tempel zu geben. Denn Jesus hat den Tempel nicht für einen Ort gehalten, in dem es um Gottes Willen und um das Wohl der Menschen geht, sondern er hat ihn eine Räuberhöhle genannt und sein Ende angekündigt. Der Besuch im Tempel ist das letzte freie Auftreten Jesu in der Öffentlichkeit. Er ist am Ort der Entscheidung und im Angesicht seiner Gegner, die ihn nun zur Strecke bringen werden. 

Die Warnung Jesu gilt auch uns, dass wir uns nicht abfinden mit einem ungerechten Finanzsystem und uns nicht an denen orientieren, die auf Kosten des Lebens anderer reich werden. Papst Franziskus formulierte es so drastisch wie Jesus: „Diese Wirtschaft tötet.“ 

Jesus nimmt Partei für diejenigen, die unter die Räder kommen. Eine Weltordnung, die zulässt oder bewirkt, dass 24.000 Menschen jeden Tag an Hunger sterben, dass Milliarden Menschen die Chance auf Bildung, gutes Wasser oder gute Arbeit verwehrt ist, ist ein Unrechtssystem, das Gottes Willen widerspricht. Es wird zusammenbrechen. Diese Botschaft macht den einen Angst und den anderen Hoffnung. 

Eine Frage bleibt: Was kann ich schenken? Teilen ist wichtig, aber nicht nur Geld.

Ein Winzer sagte kürzlich: Die Weinfeste wird es nach der Pandemie nicht mehr geben, weil es die Ehrenamtlichen nicht mehr gibt, die sie ausrichten. Ähnliches ist aus Sport- und anderen Vereinen zu hören, auch aus kirchlichen Gruppen und Gemeinden. Von Menschen, die ihre Zeit und ihre Begabungen schenken, lebt Gottes Reich, lebt unser menschliches Zusammenleben und lebt der Frieden.

Schenken
Joachim Ringelnatz hat es in seinem Gedicht „Schenken“ so formuliert: 

„Schenke herzlich und frei. 
Schenke dabei  
Was in dir wohnt 
An Meinung, Geschmack und Humor,  
So dass die eigene Freude zuvor 
Dich reichlich belohnt. 
Schenke mit Geist ohne List. 
Sei eingedenk, 
Dass dein Geschenk 
Du selber bist.“

Joachim Ringelnatz (1883-1934), Aus: J. Ringelnatz, Allerdings, Berlin 1928

Was macht das Scherflein der Witwe zum Überfluss?

Es ist die Liebe – Von Sören Kierkegaard

Was macht einen Menschen groß, zum Wunder der Schöpfung, wohlgefällig in den Augen Gottes?
Was macht einen Menschen stark, stärker als die ganze Welt, was macht ihn schwach, schwächer als ein Kind?
Was macht einen Menschen unerschütterlich, unerschütterlicher als den Felsen, was macht ihn weich, weicher als Wachs? -
Es ist die Liebe.
Was überlebt alles?
Es ist die Liebe.
Was kann nicht genommen werden, aber nimmt selber alles?
Es ist die Liebe.
Was kann nicht gegeben werden, aber gibt selber alles?
Es ist die Liebe.
Was besteht, wenn alles trügt?
Es ist die Liebe.
Was tröstet, wenn aller Trost versagt?
Es ist die Liebe.
Was dauert, wenn alles wechselt?
Es ist die Liebe.
Was bleibt, wenn das Unvollkommene abgeschafft wird?
Es ist die Liebe.
Was zeugt, wenn die Prophetie verstummt?
Es ist die Liebe.
Was lässt nicht ab, wenn die Gesichter aufhören?
Es ist die Liebe.
Was erklärt, wenn die dunkle Rede zu Ende ist?
Es ist die Liebe.
Was legt Segen in der Gaben Überfluss?
Es ist die Liebe.
Was gibt Gewicht der Rede der Engel?
Es ist die Liebe.
Was macht der Witwe Scherflein zum Überfluss?
Es ist die Liebe.
Was macht des Einfältigen Rede zur Weisheit?
Es ist die Liebe.
Was ändert sich niemals, wenn alles sich ändert?
Es ist die Liebe; und nur sie ist die Liebe, sie, die niemals etwas anderes wird.

Sören Kierkegaard (1813 – 1855) dänischer Philosoph und christlicher Mystiker

Aus: Sören Kierkegaard, Religiöse Reden, Ins Deutsche übertragen von Theodor Haecker [1879-1945], München 1922

Gebet
Jesus Christus, unser Bruder und unser Licht,
ich danke dir für dein klares und befreiendes Wort.
Ich danke dir für deinen liebenden Blick auf die Armen 
und auf meine Armseligkeit.
Ich danke dir für deinen zornigen Blick auf die Selbstgefälligen
und auf meine Selbstgerechtigkeiten.
Lass uns immer mehr so leben, dass unsere Erde ein Ort der Freiheit und der Liebe ist.
Gib, dass wir uns nicht von falschem Schein blenden und bestimmen lassen.
Lass uns der Gerechtigkeit dienen und den Frieden suchen
und gib Segen unserem Leben und unserer Welt.

 

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