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Impuls zum 23. Oktober 2022

Zum 30. Sonntag im Jahreskreis

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Wir Pharisäer und Zöllner
Als die Nachricht um die Erde lief, Gott sei aus der Kirche ausgetreten,
wollten viele das nicht glauben. „Lüge, Propaganda und Legende“, sagten sie,
bis die Oberen und Mächtigen der Kirche sich erklärten 
und in einem sogenannten Hirtenbrief folgendes erzählten:
Wir, die Kirche, haben Gott, dem Herrn in aller Freundschaft nahegelegt, 
doch das Weite aufzusuchen, aus der Kirche auszutreten
und gleich alles mitzunehmen, was die Kirche immer schon gestört:
Nämlich seine wolkenlose Musikalität, seine Leichtigkeit
und vor allem Liebe, Hoffnung und Geduld.
Seine alte Krankheit, alle Menschen gleich zu lieben,
seine Nachsicht, seine fassungslose Milde,
seine gottverdammte Art und Weise alles zu verzeihen und zu helfen, - 
sogar denen, die ihn stets verspottet …
Darum haben wir, die Kirche, ihn und seine große Güte unter Hausarrest gestellt,
äußerst weit entlegen, dass er keinen Unsinn macht und fast kaum zu finden ist.

Hanns Dieter Hüsch

Evangelium nach Lukas 18,9-14x
In jener Zeit erzählte Jesus einigen, die von ihrer Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, dieses Beispiel: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten: der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Es ist schwer, ein so bekanntes Evangelium neu zu hören. Mich ärgert die plakative Gegenüberstellung von Pharisäer und Zöllner. Verleitet das nicht zur Schwarz-Weiß-Malerei? Oder will Jesus gerade die Schwarz-Weiß-Malerei der Frommen entlarven und ihnen einen Spiegel vorhalten? Damals gab es Fromme, die wussten, dass sie fromm waren und die anderen Sünder. Sie taten vieles und noch mehr, um Gott zu gefallen. Aber – so scheint es – ihr Innerstes haben sie Gott vorenthalten. Ihre eigene Schuld konnten und wollten sie nicht bekennen. So hielten sie sich nicht für schuldig, sondern glaubten, Gott sei in ihrer Schuld. 

Wir haben heute ein differenzierteres Bild von den Pharisäern damals. Viele waren ehrlich bemüht, ihren Glauben zu leben. Aber hier wird in der Gleichnis-Erzählung von Jesus generell die Gefahr der Frommen benannt, und damit geht es auch um uns.
 
Damals gab es Zöllner, Kollaborateure mit der Besatzungsmacht, die auch oft in die eigene Tasche wirtschafteten und deswegen bei vielen verhasst waren, kleine und große Verbrecher, siehe Zachäus (Lk 19). Aber es gab auch die kleinen, verarmten Menschen, die sich anders nicht helfen konnten, die sich ihrer Armseligkeit bewusst waren.
 
Aber Vorsicht: Das Gleichnis ist voller Klippen und Stolpersteine. Es geht um die Haltung vor Gott und um das Miteinander der Menschen, um das Urteilen und Verurteilen. Es geht also um uns. Vielleicht bin ich Pharisäer und Zöllner zugleich, vielleicht sind das zwei Seiten, die in mir miteinander ringen, die ich aber beide nicht wahrhaben will. Ich möchte weder Pharisäer noch Sünder sein: 

„Pharisäer“ gibt es im religiösen Bereich, aber auch sonst in Gesellschaft und Politik, nämlich überall dort, wo ich mich oder uns allein auf dem richtigen Weg sehe und mich und uns absetze von den anderen, den Dummen, den Faulen, den Falschen, den Verbrechern, den Sündern: 

Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin
Wie die Anhänger christlicher Gruppierungen, die sich fälschlicherweise „Kirchen“ nennen;
Wie die Reformer in der Kirche, die unseren Glauben dem Zeitgeist opfern;
Wie die Bischöfe, die nur von gestern sind;
Wie die Pharisäer, die nur sich für fromm halten;
Wie die Homosexuellen, die in Sünde leben;
Wie die Kirchenleitungen, die die sexuellen Verbrechen vertuscht haben; 
Wie die Frauen, die sich in ihrer Not zur Abtreibung entscheiden;
Wie die Frommen, die immer noch sonntags zur Kirche laufen;
Wie die queeren Menschen, die eine Ehe schließen wollen;

Oder gesellschaftlich und politisch, Ich bin auf der sicheren und richtigen Seite, weil ich nicht bin
Wie die Penner und Stadtstreicher, die nur von unserem Geld leben;
Wie die Streber, die nur nach oben wollen;
Wie die Ausbeuter, die nur nach Gewinn streben;
Wie die Alkoholiker, die ihre Familie kaputt machen;
Wie die Homosexuellen, vor denen wir unsere Kinder schützen müssen;
Wie die Arbeitslosen, die sich vor jeder Arbeit drücken;
Wie die Sozialhilfeempfänger, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen;
Wie die Linken, die nur unsere Wirtschaft zerstören;
Wie die Rechten, die unsere Demokratie zerstören;
Wie die Mächtigen, die auf Waffen und Krieg setzen;
Wie die Pazifisten, die unseren Staat nicht verteidigen wollen;
Wie die Flüchtlinge, die vom „Sozialtourismus“ leben;

Wie.... wie.... wie.... – hier muss schon jede und jeder selbst all jene nennen, von denen sie oder er sich absetzen möchte, mit denen sie nichts zu tun haben wollen.

Das Ganze gilt nicht nur im individuellen Raum, sondern in Kirche, Gesellschaft und Politik, in den Strukturen, in denen wir miteinander umgehen. Wir sind die Guten, die anderen die Bösen: wir verteidigen den richtigen Glauben, den die anderen dem Zeitgeist opfern, oder: wir Kirchenreformer sind die Kirche der Zukunft. Wir sind die richtige Partei, die anderen zerstören Deutschland. Wir verteidigen nicht nur in der Ukraine die westlichen Werte, die Russen sind nur Verbrecher. Wir vertreten die freie Marktwirtschaft – auf wessen Kosten? Das Pharisäertum steckt auch in jedem Rassismus, im Antisemitismus, im Kapitalismus. „Pharisäer“ gibt es überall, wo Ideologien herrschen, pauschale Verurteilungen, Populismus. Oft ist dies auch die Ursache von Gewalt, von Mobbing bis hin zum Krieg. Die Opfer stören nicht. Sie sind nur „Kollateralschäden“. „Wir“ sind die Guten, die „anderen“ die Dummen und Bösen. 

Nach dem Urteil Jesu geht der Pharisäer nicht gerechtfertigt nach Hause. Der Zöllner wird gerechtfertigt, nicht weil Jesus sein Tun gut heißt, sondern weil er ohne Beschönigung seine Situation vor Gott hin hält. Das heißt für uns Pharisäer: Der, von dem ich mich absetzen möchte, den ich für schlecht halte, den nimmt Gott an, wenn er seine Armseligkeit erkennt und bekennt. Ich selbst hingegen, wenn ich mir gut und fromm und richtig vorkomme, gehe leer aus, gehe unversöhnt wieder von dannen, weil Gott mit seiner Barmherzigkeit bei mir gar nicht ankommen kann. Wer um sein eigenes Versagen weiß und es vor sich selbst und vor Gott nicht versteckt, der ist offen für das Erbarmen Gottes, während der Pharisäer in mir meint, des Erbarmens gar nicht zu bedürfen, weil ich schon immer auf der richtigen Seite bin. Deswegen ist das Urteil des Frommen über die anderen auch oft so hart, so erbarmungslos, so endgültig, weil man ja meint, nach den Maßstäben Gottes zu urteilen. 

Damit ist nichts gesagt gegen ein Leben nach dem Urteil des eigenen Gewissens. Damit ist auch nichts gesagt gegen ein nötiges Ringen um den richtigen Weg im eigenen Leben, in der Kirche und in der Gesellschaft, in der Politik. Wir müssen urteilen, auch aus unserem Glauben heraus. Aber wir sollten dabei um die Gratwanderung zwischen dem Zöllner und dem Pharisäer in uns wissen. Wir sollten aufhören, uns mit anderen zu vergleichen und zu glauben, Gott näher zu sein als die anderen. 

So wird das Gleichnis für uns zur Einladung, in uns den Zöllner zu entdecken und endlich loszuwerden, was uns bedrückt, was in uns unerlöst ist: unseren Egoismus, unsere Untiefen, unsere Schatten, unser Versagen, unsere Schuld. Vor Gott dürfen wir uns ohne Angst auch in die innersten Winkel unserer Not und Verzweiflung hineinwagen, damit das Licht seines Erbarmens auch dort hineinfallen kann. So können wir auch in uns den Pharisäer entdecken, der immer in uns steckt, von dem wir uns aber verabschieden können.

So wird das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner zur Frohen Botschaft für alle, auch für die beiden Seiten in mir selbst: Gott ist barmherziger, als wir denken, barmherziger mit den anderen und mit uns selbst. Darum brauchen wir uns vor ihm nicht fromm aufzuplustern oder uns vor ihm zu rechtfertigen. Wir müssen nicht Pharisäer bleiben. Wir können barmherziger werden - wie Gott. Wir brauchen auch nicht Zöllner bleiben, denn Gott will die Menschen aufrichten und nicht klein machen. Es geht also nicht darum, sich vor Gott zu demütigen – auch das könnte wieder pharisäerhaft sein -, sondern darum, vor ihm ehrlich zu sein.

Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner - ein bekanntes, aber gefährliches Gleichnis für unser Selbstverständnis, eine Botschaft der Befreiung und des Erbarmens für alle, die sich darauf einlassen.

Gebet
Unbegreiflicher Gott des Erbarmens und der Güte,
ich weiß um die Gefahr der Frommen,
sich besser und dir näher zu dünken als die anderen.
Ich weiß aber auch um die Gefahr der Verzweiflung,
die das Herz zuschnürt und nicht mehr leben lässt.

Lass uns ehrlich sein vor uns selbst und vor dir,
damit du unsere Untiefen mit deinem Licht verwandeln kannst.
Versöhne den Pharisäer und den Zöllner in mir, in uns allen.
Mach uns barmherzig im Umgang miteinander,
damit wir einander nicht klein machen, sondern aufhelfen,
damit wir uns nicht über andere erheben, 
sondern sie zum Leben ermutigen,
zum Leben mit dir, dem barmherzigen Gott.
Denn so werden Versöhnung und Frieden möglich,
die alle Menschen zum Überleben brauchen.